Was war der Ausgangspunkt, die Hauptmotivation, diese
Filme zu machen?
Ich wurde 1964 in Frankreich geboren, also 20 Jahre nach dem Krieg. Ich
habe eine deutsche, protestantische Mutter, die in Kassel aufgewachsen ist, und
einen französischen, jüdischen Vater, dessen Familie sehr stark vom Holocaust
betroffen war. Als junge Frau, etwa 1990, hatte ich die Gelegenheit, einige
Monate in Düsseldorf zu arbeiten. Wenn ich älteren Menschen auf der Straße
begegnete, fragte ich mich immer, wie sie den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten.
Natürlich konnte ich sie nicht einfach ansprechen und fragen. In dieser Zeit
habe ich nach einem längeren familiären Zerwürfnis meine deutsche Großmutter
wiedergesehen. Dabei erfuhr ich, dass sie jährlich an Klassentreffen teilnahm.
Meine Großmutter, die 1933 ihr Abitur gemacht hatte, traf sich also immer noch
mit ihren Klassenkameradinnen in Kassel. Da hatte ich den Einfall, eben diese
Klassenkameradinnen zu besuchen und sie zu fragen, wie sie den Krieg erlebt
hatten. Ich hatte keine vorgefasste Meinung und was auch immer sie mir
antworten würden, würde mich interessieren. Beim Dreh des Filmes entdeckte ich
vieles – diese Schulklasse schien wie ein Mikrokosmos der damaligen deutschen
Gesellschaft zu sein.
Wo standest du zu diesem Zeitpunkt im eigenen filmischen
Schaffen?
In den 90er Jahren war ich etwa 30 Jahre alt. Ich war Assistentin von
Spielfilm-Regisseur*innen und drehte nebenbei Kurzspielfilme und Werbespots in
Deutschland (z. B. für Clausthaler – der Ausdruck „nicht immer aber immer
öfter“ stammt von mir). Ich hatte große Ahnung von Spielfilmen, aber keine
Ahnung von Dokumentarfilmen. Da schlug mir ein Produzent vor, einen
Dokumentarfilm über das zu machen, was ich wollte. So kam es, dass ich ihm vorgeschlagen
habe, nach Deutschland zu reisen und den ersten Film, OMA, zu drehen. Dann kam
die Idee für den zweiten Film: über die sieben jüdischen Mädchen aus Omas
Klasse und schließlich über die nächste Generation, die Schulklasse meiner
Mutter, die während des Krieges Kinder waren, da sie alle 1937 geboren wurden.
Anschließend ermöglichte mir diese Trilogie Dokumentarfilme für Arte und das
französische Staatsfernsehen zu drehen, insbesondere historische
Dokumentarfilme über den Nationalsozialismus. Unter anderem habe ich einen
Dokumentarfilm über die Operation T4 gedreht, das Euthanasie-Programm der
Nazis, oder auch über den Staatsanwalt Fritz Bauer.
Gibt es eine Rezeptionsgeschichte dieser Trilogie in
Kassel/Deutschland? Und wenn nicht, warum?
Diese Filme wurden mit sehr geringen finanziellen Mitteln gemacht –
lediglich mit der Unterstützung eines kleinen französischen Fernsehsenders.
Ohne die Hilfe meiner Tante Barbara, die immer noch in Kassel lebt, hätte ich
diese Filme nicht machen können. Sie beherbergte den Kameramann und mich, und
mein Cousin Claudius machte die Tonaufnahmen für den ersten Film. Außerdem hat
mir Herr Wegner Zugang zu dem Filmarchiv verschafft, das Sie im Film Oma sehen.
Auch das war eine sehr wertvolle Hilfe. Der französische Produzent hat sich
damals nicht an deutsche Fernsehsender gewandt. Und ich weiß nicht, ob die Form
und das Thema dieses Dokumentarfilms damals wie auch heute ein deutsches
Fernsehen interessiert hätten. Wir werden es nie erfahren. Seitdem sind Bücher
wie „Opa war kein Nazi“ erschienen. Aber damals war das Befragen der
Erinnerungen der Zeitzeug*innen durch die Enkelkinder noch nicht gang und gäbe. Abgesehen von einmaligen privaten
Vorführungen mit den Zeitzeug*innen und ihren Familien waren die Filme weder in
Kassel noch anderswo in Deutschland zu sehen gewesen.
Wie wurden die drei Filme von der Kritik aufgenommen?
Als ich das Glück hatte, den ersten Film drehen zu können, hatte ich
keinerlei Erfahrung mit Dokumentarfilmen. Ich ließ mich also von meinem
Bauchgefühl leiten; jedoch ohne außer Acht zu lassen, dass ein Film, der
hauptsächlich auf Interviews beruht und durch Schnitt konstruiert wurde, Gefahr
lief, ästhetisch nicht sehr zu überzeugen.
Ich war überrascht, dass der Film sofort für wichtige Festivals in Frankreich
ausgewählt wurde. Die Verantwortliche eines Festivals teilte mir mit, dass ihr
zuvor kein Dokumentarfilm in diesem Stil begegnet sei; aber sie genau in dem
Jahr zwei weitere, ähnliche Filme aus Kanada und Russland erhalten hatte. Immer
über Schulklassen. Bei der ersten Vorführung fragte mich ein Zuschauer, ob ich
eine rechtsextreme Person sei und wo meine Uniform sei. Glücklicherweise
verteidigte mich der Rest des Publikums. Dieser Film kam nach dem
beeindruckenden Film „Shoah“, in dem Claude Lanzmann seinen
Gesprächspartner*innen gegenübertritt. Ich hatte unter anderem ehemaligen Nazis
das Wort erteilt und sie frei sprechen lassen, ohne meine Position hinter der
Kamera kenntlich zu machen. Ich dachte, dass meine Inszenierung ausreichend
explizit war. Glücklicherweise kam es nie wieder zu einer solchen Situation und
der Film wurde nicht nur ausgezeichnet, sondern auch weitergereicht und
gezeigt, um Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen.
Dann drehte ich „Saure Trauben“, der ebenfalls einen wichtigen Preis in
Frankreich erhielt, nämlich den Preis der Gesellschaft der
Dokumentarfilmregisseur*innen. Schließlich wurde auch „Les Absentes (Die
Abwesenden)“ für Festivals in Frankreich ausgewählt. Dann wurde die Trilogie
auf DVD veröffentlicht, was eine Seltenheit für Dokumentarfilme war.
Diese Trilogie mit ihren einfachen Stilmitteln fand im kleinen Kosmos des
Dokumentarfilms in Frankreich einen recht ungewöhnlichen Anklang. Der Film über
die Generation meiner Mutter hat bei vielen älteren jüdischen Menschen den
Wunsch geweckt, Deutschland zu besuchen. Als ob diese Filme Hoffnung geben
würden. Befreundete Schriftsteller*innen und Theaterregisseur*innen schienen
sich von ihnen inspirieren zu lassen. Es ist wirklich großartig, dass diese
kleinen Dokumentarfilme in Frankreich so viel bewirkt haben.
Deshalb freue ich mich sehr, dass diese drei Filme nun endlich auch in
Deutschland, in Kassel gezeigt werden, womöglich als eine Art Restitution.
Gab es irgendwelche Konflikte?
Für den ersten Film öffneten mir durch die Anwesenheit
meiner Großmutter alle ihre Klassenkameradinnen die Türen. Bei der Vorführung
im Haus meiner Tante sagte meine Großmutter nur, dass der Film „tendenziös“
sei. Es stellte sich heraus, dass sie recht hatte. Ich bedauere sehr, dass ich
sie für die Entstehung des Films hinters Licht geführt hatte. Als Filmemacherin
setzt man sich stetig mit ethischen Fragen auseinander. Beim ersten Film habe
ich alles versucht, denjenigen eine Stimme zu geben, die stillen Widerstand
gegen den Nationalsozialismus geleistet hatten, oder aber auch denjenigen, die
Angst davor hatten. Denn die Worte derjenigen, die dem Nationalsozialismus
nahestanden, wurden buchstäblich überstrapaziert. Später, für den Film über die
Klasse meiner Mutter, weigerte sich die Hälfte der Personen, sich am Film zu
beteiligen und machte dies deutlich, indem sie mir Briefe mit ungewöhnlich
harten Ausdrucksweisen schrieb. Es ging mir keineswegs darum, das Andenken
ihrer Eltern zu beschmutzen. Ich wollte nur zeigen, wie es war, nach dem Krieg
aufzuwachsen. Die Klassenkameradinnen meiner Mutter, die bereit waren, sich
filmen zu lassen, waren diejenigen, die sich auf die eine oder andere Weise mit
der Geschichte auseinandergesetzt hatten: Sie waren Historikerinnen oder
Französischlehrerinnen geworden oder hatten jüdische Männer geheiratet.
Bedauerlicherweise hat die Tatsache, dass ich diesen Film gemacht habe,
irgendwo auch die Schulklasse in zwei Hälften geteilt.
Auch wenn meine persönlichsten Filme immer noch schwer zu drehen sind, bin ich
zu einer versierten Dokumentarfilmerin geworden. Aber von all meinen Filmen
wird mein Lieblingsfilm für immer „Saure Trauben“ bleiben. Er zeigt anhand
dieser bewegenden Frauen die große Herausforderung, Deutsche in der
Nachkriegszeit zu sein: ein unmöglich zu tragendes Erbe.