interfiction

Künstler*innen, Video- und Filmemacher*innen, Programmierer*innen, (H)A(c)ktivist*innen, Designer*innen, Medien-, Netz-, Natur- und Kulturwissenschaftler*innen sowie andere an einem interdisziplinären Austausch zum Thema interessierte Theoretiker*innen und Praktiker*innen kommen zusammen, um im Rahmen der Tagung in Vorträgen und Präsentationen Thesen und Projekte vorzustellen und zu diskutieren.

Die Ausschreibung und weitere Informationen sind unter www.interfiction.org abrufbar.

Seit 1995 findet die Workshop-Tagung interfiction jährlich als im Rahmen des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes statt. Als dessen interdisziplinäre Sektion will interfiction Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, Theoretiker*innen und Praktiker*innen zu einer Veranstaltung zusammenzubringen, in der gemeinsam das komplexe Spannungsfeld von Kunst, Medien und Netzkultur ausgelotet werden kann. Jedes Jahr wird dazu ein aktuelles Fokus-Thema ausgewählt. Ausgehend von Fragestellungen werden dabei in Vorträgen und Präsentationen Thesen und Projekte vor- und zur Diskussion gestellt, während Workshops und Gesprächsrunden einen konzentrierten Austausch fördern, der über eine Vertiefung und Reflexion hinaus auch weiterführende Perspektiven eröffnen soll.

Die Workshop-Tagung interfiction versteht sich als Forum für den Austausch, die Vernetzung und die Zusammenarbeit von Produzent*innen aus Theorie und Praxis. Die Grundstruktur der Veranstaltung entspricht dem Anliegen, als ein "temporäres Labor" zu funktionieren, also nicht nur Plattform für Ideen und Projekte zu sein, sondern eine direkten und produktive Auseinandersetzung über Fragen und Probleme zu ermöglichen, welche die Teilnehmer*innen in der Arbeit an und mit diesen Ideen bzw. im Rahmen entsprechender Projekte beschäftigen.

Leiterin der Tagung ist Dr. Verena Kuni, Professorin für Visuelle Kultur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

interfiction XXX/ 2023

In diesem Jahr befasst sich die interdisziplinäre Workshop-Tagung für Kunst, Medien und Netzkultur interfiction mit einer speziellen Form der Kommunikation zwischen Systemen, die gerade als der heiße Scheibenweltsalat der Dekade gefeiert wird. Nämlich mit jenen Zwiegesprächen, die wir mit Programmen führen, von denen sich manche anscheinend fast so viel erwarten wie von einem Flaschengeist. Texte! Bilder! Ideen! Antworten auf alle Fragen! Ganze Welten gar! Das ist die neue Kunst: PROMPT FICTION...

Kommen da zu den dienstbaren Maschinen, Apparaten und Anwendungen, die für uns denken, sprechen, handeln sollen, einfach noch ein paar weitere hinzu? Oder wäre es möglich, dass die Delegation der Imagination auf Dauer doch in Defiziten resultiert? Ganz zu schweigen von den Problemen, die sich schon jetzt abzeichnen, wenn Software von und mit Datensätzen lernt, die von stereotypen Bildern und Denkmustern geprägt sind, die Daten quantitativ und reduktionistisch auswertet, die sie zuvor breit erfasst. Und die sie zuvor, ohne zu fragen, von denen genommen hat, die nun für die Nutzung der schönen neuen Werkzeugwelt natürlich zahlen sollen, mit Daten und/oder gleich mit Geld... Liebe*r KI-Chatbot, was sagst Du denn dazu?

Genau: Das ist die neue Kunst – PROMPT FICTION!

PROMPT FICTION

 

Erinnert sich noch jemand an diese verschrobene Kunstform: Viele Menschen schauen wenigen Menschen dabei zu, wie diese bereits existierende Texte nachsprechen und dabei mit ihren Körpern – Mimik, Gestik, Haltungen und Bewegungen – interpretieren? PROMPT heißt hier: Vergisst einer der beteiligten Menschen sein Skript, wird still und heimlich ausgeholfen. Jemand spricht einen Teil des fehlenden Textes, damit der Aussetzer überbrückt und die gespeicherte Information im Anschluss wieder fehlerfrei abgerufen werden kann.

Die Schwächen des Systems „Mensch“ gleichen einander dabei auf durchaus vorteilhafte Weise aus: Noch bevor die einen ihren Text vergessen, vergessen die anderen, dass dieser bereits geschrieben steht – und sehen dem entsprechend selbstverständlich über die PROMPTs hinweg, die je nach medialem Rahmen in unterschiedlichen Formaten dargeboten werden.

Soweit, so gut. Aber eben auch fast schon museal. Denn heute muss nun wirklich kein Mensch mehr Texte memorieren – ja: nicht einmal schreiben oder denken. All das haben in der Vergangenheit mehr als genug Menschen für uns getan. Irgendwann ist mal gut, oder etwa nicht? Wer soll noch all die Texte lesen, die Bilder sehen? Und obendrein vielleicht auch noch alles verstehen, wofür dann nochmal mehr Texte und Bilder die Grundlage wären? Ganz genau: das wäre einfach unzumutbar.

Tatsächlich haben wir ja auch in den vergangenen Jahren fleißig für die neue Zeit geübt und große Fortschritte gemacht. Statt mühselig eins und eins zusammenzuzählen – oder gar miteinander malzunehmen – haben wir den Taschenrechner gefragt. Der wusste dann auch gleich, wie Wurzelziehen und Prozentrechnung gehen. Durch Hundert? Stellen hinter dem Komma? Geht eigentlich gar nicht, viel zu kompliziert.

Und kennt eigentlich noch jemand wen, der*die Telefonnummern auswendig lernt? Armer Freak, zumal es inzwischen ja nicht mal mehr die „Fernsehshows“ gibt (Fernsehen? Was war das doch gleich?), in denen man mit auswendig gelernten Telefonbüchern (Telefon-Büchern?) auftreten kann.

Oder gar, wenn wir gerade beim Memorieren sind: Namen? Daten? Gedichte? Also bitte, derlei zieht doch nicht mal mehr im Zirkus oder im Varieté – wozu haben wir Suchmaschinen? Was die nicht finden können, wird wohl nicht so wesentlich sein. Und zudem zeigen die uns auf, was wahre Vielfalt ist: Zu jedem so genannten Faktum gibt es Alternativen – tja, liebe Weltverschwörer*innen und Geheimwissenswalter*innen, Pech gehabt: Das Internet bringt es an den Tag.

Und jetzt eben sogar noch mehr: endlich muss man nicht mehr an den Nägeln kauen, weil sich einfach keine Idee mehr einstellen will, von ganzen Sätzen ganz zu schweigen – schon in der Schule haben wir geahnt, dass das alles vollkommen überflüssig ist. Unnütze Infos, unnützes Wissen, unnütze Skills. Wozu gibt es Autocomplete? Das funkt im Suchfenster ebenso wie in der SMS! Und zwar PROMPT!

Mit Bildern schaut es ganz ähnlich aus. Da haben wir erst über Jahrhunderte – ach was: Jahrtausende – mühsam diverse Techniken entwickelt und dann erlernen müssen, von der Zeichnung und Malerei über Bildhauerei und Plastik bis hin zu Apparaten und Automaten, die zunächst aber noch komplexes Wissen und Übung in der Handhabung brauchten. Das alles ist glücklicherweise schon seit einigen Dekaden Geschichte. Heute heißt es: Digitale Bildgeneration mit dem Zauberstab, mit wenigen Klicks werden Träume wirklich wahr! Viel zu lange war das noch immer ein mühseliges Geschäft, von Programmen lediglich geleitete Fummelei. Doch damit ist es inzwischen auch vorbei! Wenn überhaupt braucht es ein, zwei Stichworte – und schon macht sich das Bild von selbst. Egal ob Zeichnung, Holzschnitt oder Foto, realistisch oder abstrakt, real oder surreal: alles ist möglich, alles digital. Hauptsache nur: es gab es so oder so ähnlich schon einmal. PROMPT! Und schon wird es geliefert.

Nur nebenbei: Dass sich derzeit ausgerechnet die Künstler*innen beschweren, die KI habe sie beklaut: nun, haben die Avantgarden der Modernen nicht selbst das Lied gesungen, dass es in der Kunst nichts Neues geben kann? Wenn wir nur alle das Denken und das Machen an die Maschinen delegieren, dann sollte es eigentlich Frieden geben können: Endlich ein komplett konsequenter Abschied von der vermaledeiten Autor*innenschaft! Das Problem sind doch eher diejenigen, die ein Geschäft mit den Inhalten machen wollen – und mit den Maschinen, die sie generieren. Kann man das nicht einfach alles sich selbst überlassen? Wir Menschen lehnen uns zurück und genießen? Endlose Innovation?

Oder ist genau das am Ende dann doch falsch gedacht? Würde die Delegation der Produktion und am besten auch gleich der PROMPTs an Automaten zu einer unaufhaltsamen Produktivität führen, die auf nichts anderem als der endlosen Variation des Vorhandenen beruht? Dann dürfte sich die Frage wohl etwas anders stellen: Wollt Ihr die totale Entropie?

Nun: Die Maschinen haben sich gerade erst warmgelaufen. Ob wir uns wirklich noch entscheiden können, sei einmal dahingestellt. Bis dahin kann, wer will, mit seinen*ihren Resten von Intelligenz, Imagination, Fantasie und Poesie eine weitere Runde drehen. Ob der jeweilige „Output“ jemanden interessiert oder gar jemand dafür zahlt, steht auf einem anderen Blatt. Sage nur keine*r, wir hätten das nicht so gewollt.

Ohnehin gilt nach wie vor: Nicht Computer sind doof – sondern allenfalls jene, die sie nutzen. Und jene, die sie programmieren. Auf beiden Seiten braucht es also...
... intelligente PROMPTs? Oder hat doch noch jemand eine andere Idee?    

Verena Kuni