Prolog

Von Enthusiast*innen lernen: Vom reisenden Dokumentarfilmfest zum internationalen Film- und Medienfestival

Es ist Dokfest-Jubiläum. Wir zählen die Ausgaben, nicht die Jahre. 1982 ging der Vorläufer des heutigen „Kasseler Dokumentarfilm- & Videofestes“ erstmals über die Bühne. Bzw.: Ein „reisendes Dokumentarfilmfest“ warf Filme auf die Leinwand des frisch gegründeten Filmladens, die es sonst nicht ins Kino geschafft hätten. Die Gegenöffentlichkeitsbewegung bewegte damals auch Kassel. Soziale Projekte und alternative Einrichtungen sprossen aus dem Boden. Die Weinhandlung Schluckspecht oder der Brotgarten existieren bis heute, genauso wie der Filmladen, die „Mutter“ des Festivals. Beide Institutionen sind das Werk enthusiastischer Dilettant*innen, die dem Mainstream in den Kinos etwas entgegensetzen wollten. 

Lehramtsstudierende, Sozialarbeiter*innen, Künstler*innen usw. – keine*r hatte Film gelernt, aber alle glaubten daran zu wissen, was dem Publikum auf der Leinwand fehlt. Sie alle fokussierten ihre beruflichen Biografen auf die Leinwand und schafften es irgendwie – mehr schlecht als recht – davon auch leben zu können. Dieses Kunststück gelang nur, weil man immer bereit war, sich ständig anzupassen. Für das Kino bedeutete das vor allem, dem Publikum nicht nur Kost, sondern auch Komfort zu bieten, sich der wachsenden Konkurrenz im Kino-Boom der 1990er zu erwehren und mit der technischenEntwicklung zu gehen. Und sonst? Mussten die Filme nur noch einem Publikum gefallen. Im Vergleich dazu waren die Herausforderungen an das Festival noch vielfältiger. Da wären zunächst die äußeren Umstände. Spätestens, als man sich entschloss, nach dem reisenden Dokumentarfilmfest, das noch sein eigenes Programm mitbrachte, selbst ein Filmprogramm auf die Beine zu stellen, wurde das Thema Geld zum Dauerbegleiter. Der Druck eines Ausschreibungsformulars oder eines Programmheftes, der Rückversand eines Sichtungsbandes oder ein kleiner Zuschuss für anreisende Filmemacher*innen – alles kostete Geld, das besorgt werden musste. Schon diese „Peanuts“ zeigen das Dilemma, dass die Kosten mit dem Erfolg eines Festivals auf geradezu natürliche Weise immer weiter anwachsen. Noch ein Beispiel? Mehr Programm bedeutet mehr Mitarbeiter*innen in den Sichtungskommissionen, mehr Personal vor Ort, mehr Raummiete usw. Geld ist dabei nur ein Beispiel für die vielfältigen organisatorischen Herausforderungen, denen sich das Festival stellen muss und die mit Idealismus allein nicht zu bewältigen sind. Rückschauend ist deshalb die ontinuierliche Professionalisierung des Festivals das vielleicht größte Verdienst der vielen Macher*innen der vergangenen Jahre.

Voraussetzung dafür war wiederum, dass die Veranstalter*innen ihr Festival ständig inhaltlich weiterentwickelt haben. Denn ein Filmfestival muss seine Relevanz permanent unter Beweis stellen: vor den Sponsor*innen, in der Medienlandschaft wie vor dem Publikum. So ergänzte die Filme aus den Anfangsjahren bald eine Videosektion, der eine Fachtagung zu Internetthemen folgte (zu einer Zeit, als das Internet noch in seinen Anfängen steckte). Eine Medienkunstausstellung emanzipierte sich von der Videosektion und VJ-Formate bereicherten die DokfestLounge. Das Festival lobte nach langem Zögern eigene Preise aus, etablierte Austauschplattformen für den hessischen Film wie internationale Partnerfestivals und Bildungsplattformen für Kasseler Schulen. 

Das pandemiebedingte Onlineformat ab 2020 wurde beibehalten und erweiterte permanent Reichweite wie Dauer des Festivals. All diese Transformationen waren nicht ohne neue Partner*innen möglich. Die Anfangstage des Festivals kennzeichneten städtische Minimalzuschüsse und landespolitische Proporzbudgets, die keine Weiterentwicklung erlaubt hätten. Die Akquise europäischer Fördergelder in den Nuller-Jahren war dann ein wichtiges Signal der Anerkennung für die geleistete Arbeit. Dies und die konsequente Lobbyarbeit führten zu einer Erhöhung der Förderungen. Durch die Vergabe von Preisen engagierten sich zunehmend auch privatwirtschaftliche Partner*innen. Heute steht das Festival auf einer soliden finanziellen Basis. Diese braucht es auch, denn ein professionelles Festival muss auch mit Profis arbeiten, muss seinen Overhead genauso bezahlen können wie die Mitglieder seiner Sichtungskommissionen. Das ist die Basis, damit das Festival sich weitererfinden und in eine Zukunft gehen kann.

Denn Filmfestivals braucht es weiterhin. Aus der Gegenöffentlichkeit von einst ist heute ein „Für die Öffentlichkeit“ geworden. Hier treffen Medienmacher*innen auf ein realweltliches Publikum, entstehen Feedback-Kanäle und neue Netzwerke, werden kreative Impulse gegeben und technische Innovationen vorgestellt und die Themen von Morgen verhandelt. Ein Festival ist dabei ein aktiver Prozess, der Rezipient*innen und Produzent*innen gleichermaßen einbindet. Das schätzen beide und das brauchen beide. (Wieland Höhne, von 1995 bis 2006 Mitarbeiter des Kasseler Dokfestes, ab 2001 Co-Festivalleitung)